Richtig gendern als kreative Herausforderung

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Gendergerechtigkeit oder Genderwahnsinn? Diese Frage bewegt mich seit einiger Zeit sowohl beruflich als auch privat. Beruflich, weil ich mich damit täglich als Texterin beschäftige. Privat, weil die junge Generation in meiner Familie ihre eigene Meinung zum Gendern entwickelt. Daher steuere ich zur #BlogparadeGendergerechtigkeit von Nicole Isermann gerne ein paar Gedanken und Erfahrungen aus meinem Genderalltag bei.

Warum für mich kein Weg am Gendern vorbeiführt

Ich muss zugeben: Obwohl mich „fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ früher nicht gestört hat, sträuben sich mir heute die Nackenhaare. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die ich hier nicht wiederholen möchte. Dann schon lieber den Witz mit dem Kind, das fragt:

„Können Männer eigentlich auch Bundeskanzlerin werden?“

Wer jetzt meint, dann hat sich doch alles wunderbar entwickelt, irrt. Diese Frage bildet ja immer noch die Problematik der Rollenklischees ab. Denn natürlich können auch Männer Bundeskanzlerin werden, Putzfrau oder Krankenschwester; und auch Frauen können Astronaut, Superman oder Bankdirektor werden.

Weil wir mit Superman aber einen muskulösen Mann assoziieren und mit Bankdirektor einen Herrn im dunklen Anzug, brauchen wir eine gendergerechte Sprache; also zum Beispiel Superman/woman oder Bankdirektor*in. Wir können Menschen schließlich nicht vorschreiben, welche Gefühle welche Begriffe in ihnen auslösen sollen; in diesen Beispielen also auch Frauen mit Superkräften oder als Leiterinnen von Banken.

Für mich führt daher an einer Weiterentwicklung unserer Sprache, die alle Menschen einschließt, kein Weg vorbei. Vor allem dort, wo Sprache einen wichtigen Beitrag zur Gleichberechtigung leistet.

Gendern im Ernährungstext

Dazu gehören bei meinen Themen Ernährung und Gesundheit viele Berufsbezeichnungen, die ich heute konsequent gendere. Ich schreibe abwechselnd „Ärzte und Ärztinnen“ oder „Ärztinnen und Ärzte“. Ich spreche von DiätassistentInnen, „Ernährungsberater:innen“ und nutze neutrale Formen wie „Ernährungsfachkräfte“ oder „in der Ernährungsberatung“. Das „Arztgespräch“ wird zur „ärztlichen Beratung“ und natürlich gibt es nicht nur „Landwirte“, sondern auch „Landwirtinnen“ oder „Menschen, die einen Bauernhof bewirtschaften“.

Die Akteure auf der anderen Seite vom Schreibtisch, Tresen oder im Laden kann ich zum Beispiel Verbraucher*innen, Kund_innen, Betroffene oder Erkrankte, Klienten und Klientinnen nennen. Aber halt: Müsste es jetzt nicht auch Akteur*innen heißen? Und wäre statt Kund_innen nicht der Begriff Kundschaft schlauer?

Das sind nur zwei Beispiele, wo die Lust zur Last wird, man genau hinschauen muss und ich manchmal fünf gerade sein lasse:

  • So klingt Akteur für mich neutral und nicht nach Mann oder Frau. Das gilt genauso für Multiplikator und würde ich einfach mal so stehen lassen.
  • Kundschaft ist mir dagegen zu unpersönlich und erzeugt in meinem Kopf Bilder vom längst ausgestorbenen „Tante-Emma-(Onkel Otto?)-Laden“, in den jemand „Kundschaft!“ hineinruft.*

„Tante-Emma-Laden“ oder „Onkel-Otto-Laden“ wartet auf Kundschaft…

Kreativ gendern lernen und locker bleiben

Für mich sind gendergerechte Texte daher eine kreative Herausforderung. Und ja, das kostet mich im Moment mehr Zeit. Aber ich werde immer besser, weil Sprache mit Gewohnheit zu tun hat und ich heute zum Beispiel selbstverständlich von „Fachwissen“ oder „Expertise“ statt Expertenwissen spreche. Das „Expertiseinterview“ geht mir dagegen (noch) nicht so gut über die Lippen.  Oft führt das dazu, dass ich den ganzen Satz so umbaue, dass sich die Genderfrage gar nicht mehr stellt.

Im Zweifel opfere ich die Lesbarkeit und Verständlichkeit meiner Texte allerdings nicht einem Gendern ohne Wenn und Aber. Und ich denke, das ist auch okay. Wenn die meisten Formulierungen in meinem Text alle Menschen ansprechen, machen ein paar Ungenauigkeiten den Gesamteffekt nicht zunichte.

Zum Glück sitzen wir alle im selben Boot. Und so blüht nicht nur die Diskussion um gendergerechte Sprache, sondern gibt es mittlerweile viele Informationen und Hilfen in Büchern oder im Netz. Zum Beispiel genderleicht.de vom Journalistinnenbund oder Online-Sammlungen wie geschicktgendern.de. Dort hole ich mir Anregungen, muss aber manchmal lachen. Zum Beispiel bei Vorschlägen wie „Fisch fangende Person“ statt Fischer/in, „Lebensmittel verarbeitende Person“ statt Koch/Köchin oder gar „Elternmilch/Brustmilch“ statt Muttermilch. Letzteres gehört für mich eindeutig in die Kategorie Genderwahnsinn, die uns nicht weiterbringt.

Hilfreich sind dagegen Tipps und Tutorials von Menschen und Organisationen, die sich mit Sprache und richtigem Gendern beschäftigen, ohne es auf die Spitze zu treiben. Dazu gehört auch Sigi Lieb, die ich aus meinem Netzwerk Texttreff kenne. Sie erklärt in einem Kurs auf LinkedIn in über 20 Kurz-Videos, wie Sprache funktioniert, warum Gendern so wichtig ist, wie in anderen Sprachen gegendert wird und welche Lösungen es im Deutschen gibt.

Liebe Kollegys, Skeptikys und Mitdenkys

Einen kreativen Schub erfuhr ich neulich durch den Beitrag Gendern oder Entgendern, das ist hier die Frage von Angelika Pohl. In ihrem Schreibtipp Nr. 164 des Gemeinschafts-Mammutprojektes #365Schreibtipps (das ich allen Menschen, die beruflich schreiben, ans Herz lege) erklärt Angelika das Entgendern nach Phettberg in aller Kürze: Dabei wird an den Wortstamm im Singular ein y angehängt und der Genus das verwendet. Im Plural lautet die einfache Formel y plus s.

Wie das in der Praxis aussehen könnte, erklärt der Germanist – pardon, das Germanisty – Thomas Kronschläger sehr amüsant in einem Science-Slam-Video:

Für meine Themen birgt dieser Vorschlag ein tolles Potential an einfachen, verständlichen und gendergerechten Lösungen. Hier ein paar Beispiele:

  • Verbrauchys können frischen Spargel direkt bei lokalen Erzeugys kaufen.
  • Ernährungsberatys erklären ihren Klientys die Ernährungspyramide.
  • Patientys fragen am besten ihr Arzty, ob sie Vitamin D supplementieren sollten.
  • In der Projektwoche kochen Seniorys zusammen mit Schülys.

Genial, liebe Lesys, oder? Tatsächlich werden solche Varianten in anderen Sprachen bereits umgesetzt, zum Beispiel im Spanischen. Ob diese Lösung auch bei uns eine Chance hat? Im Moment noch schlecht vorstellbar. Aber wenn ich höre, wie fließend heute zum Beispiel junge Wissenschaftler*innen in Interviews oder Vorträgen gendern, bin ich gespannt auf das, was noch kommt.

Genderstern, Binnen-I oder Doppelpunkt?

Ich habe in diesem Beitrag übrigens munter verschiedene Varianten zur Verkürzung gemixt. Damit wollte ich zeigen, welche Alternativen es gibt. In einem ordentlichen Text entscheiden wir uns natürlich für eine Lösung 😉 Mit Blick auf diverse Menschen setzt sich der Genderstern zunehmend durch. Andere nutzen den Doppelpunkt. Dabei geht es außerdem um die Frage, welche Version barrierefreier ist. Zum Beispiel für Menschen, die nicht gut lesen können oder für Blinde, denen Screenreader Texte vorlesen. In ihrem Blogbeitrag Sehen oder nicht sehen – Tipps für mehr Barrierefreiheit erklärt Sigi Lieb, warum das keine Geschmackssache ist und sie den Genderstern bevorzugt.

Noch scheint hier aber das letzte Wort nicht gesprochen. Auch die Organisationen und Firmen, für die ich arbeite, folgen unterschiedlichen Argumentationen. In meinen eigenen Texten habe ich mich an den Genderstern gewöhnt. Aber wer weiß, wohin die Reise geht.

Und wie steht ihr zum Gendern? Überflüssig, überbewertet oder längst überfällig? Ich bin gespannt auf eure Kommentare.

*Für Tante-Emma-Laden schlägt das Genderwörterbuch übrigens „Minimarkt“ vor. Das habe ich erst später herausgefunden. Kurz und verständlich, aber trotzdem irgendwie schade.

Quelle Nudelfoto: Divily/pixabay.com / Quelle Foto Lebensmittelgeschäft: Bru-No/pixabay.com

4 Kommentare

  1. Ich sehe es genau wie du, liebe Gabi (und wie Julia) – und freue mich, weil ich nun auch für ein Unternehmen, das bisher so gar nicht fortschrittlich erschien, einen Genderleitfaden erstellen darf, der genau auf dieser Argumentationslinie beruht (-ys wird es da aber nicht geben). Da tut sich also was, ganz generell, und darum geht es. In meiner Nachbarschaft gibt es übrigens einen Onkel-Emma-Laden, der erst vor einiger Zeit dank Crowdfunding entstanden ist und Unverpacktes bietet :-).

    Liebe Grüße und danke für den schönen Text,
    Heike

    1. Gabi sagt:

      Liebe Heike, oh ja, Onkel-Emma-Laden ist ein schönes Beispiel, wie man das Thema auch mit einer Portion Humor und nicht allzu verbissen angehen kann. In diesem Sinne liebe Grüße von Gabi

  2. Liebe Gabi,
    echt ein toller und umfassender Artikel. Ich erlebe es ganz ähnlich wie du und übe mich in kreativen Lösungen.
    Um den Tante-Emma-Laden täte es mir allerdings wirklich leid. Manchmal darf die Kirche auch gerne im Dorf bleiben, denn hier geht es ja meist um die Vergangenheit. Heute können wir uns gerne auf Minimarkt oder vielleicht etwas ganz anderes einigen.
    Es bleibt also noch viel Spielraum für Kreativität. Wie schön! Viele Grüße von Julia

    1. Gabi sagt:

      Liebe Julia, herzlichen Dank für dein Feedback. Und deinem „wie schön!“ schließe ich mich gerne an. So wird unsere Arbeit auf jeden Fall nicht langweilig. Kreative Grüße von Gabi

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